Wir lieben die Idee der echten, unverstellten, glaubwürdigen Führungspersönlichkeit. "Menschen folgen Menschen", heißt es dann. Oder: "Führung beginnt bei dir selbst." Das stimmt. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Authentizität ist ein starkes Ideal. Wir alle wollen als echt, glaubwürdig und integer wahrgenommen werden. Doch in Organisationen wird Authentizität schnell zum Missverständnis – besonders in Führung.
Denn Organisationen brauchen für ihre Wertschöpfung keine Bühne für schillernde Persönlichkeiten. Sie brauchen Orientierung. Entscheidungen. Klarheit. Und die entstehen nicht durch Selbstverwirklichung, sondern durch funktionale Rollenerfüllung.
Die Organisation interessiert sich nicht für dein Ich.
Viele Führungskräfte, die zu mir ins Coaching kommen, sind reflektiert, kompetent, verantwortungsbewusst. Und trotzdem irritiert darüber, wie wenig Einfluss sie in ihrer Organisation tatsächlich haben.
"Jetzt bin ich CEO – nach all den Jahren, nach all den Ausbildungen – und merke: Ich habe gar nicht so viel Wirkung, wie ich dachte."
Was sie erleben, ist kein persönliches Versagen. Sondern eine systemische Realität: Führung ist deutlich weniger ein Ausdruck von Persönlichkeitsmerkmalen. Führung ist mehr eine soziale Funktion in Organisationen.
Und diese Funktion zeigt sich nicht automatisch durch Kompetenz oder Haltung – sondern durch Wirksamkeit im System. Sie entsteht durch Interaktion, durch Erwartungen, und vor allem durch Zuschreibung. Führung ist, was anschlussfähig wird – häufig ist das nicht das, was die Führungskraft verkündet hat. Das werde ich in den nächsten Wochen in nachfolgenden Artikeln noch deutlich tiefer begründen.
Wer nur sich selbst zeigt, riskiert Orientierungslosigkeit
Viele Führungskräfte wollen aus ihrer persönlichen Haltung heraus besonders authentisch sein. Sie geben alles für ihr Team, zeigen sich menschlich, nahbar, und sehr engagiert. Sie leben und verkörpern die Vision ihres Teams aus ganzem Herzen, möchten was bewirken, indem sie die "Montage wieder großartig machen" und stoßen dabei dennoch an die Organisationsgrenzen.
Denn in komplexen sozialen Systemen wie Organisationen reicht Echtheit - für echte Wirksamkeit - bei weitem nicht.
Was es braucht, ist bewusste Rollenarbeit. Und ein Verständnis dafür, dass du in Führung nicht du selbst bist – sondern du in Rolle und Kontext.
Rollenklarheit entlastet
Wenn eine Führungskraft gezwungen ist, unpopuläre Maßnahmen umzusetzen, kann es entlastend sein, das "organisationskonform" aus der Rolle heraus zu tun: "Wenn ich das als CEO nicht mache, macht es jemand anders, der meinen Job will."
Das ist nicht gefühllos. Das ist professionell. It works as desined. Und es schützt die eigene Integrität.
Die andere Hälfte der Wahrheit
Ich höre die Stimmen der Empörung förmlich. Das sei ja ganz schön abgeklärt - und natürlich gibt da es noch die andere Seite der Medaille: Menschen sind keine Hüllen. Ja, sie bringen Temperament, Haltung, Biografie und ihre Emotionen mit in die Organisation. Und ja, das macht einen Unterschied.
Doch in Organisationen zählt viel weniger, was du mitbringst – sondern viel mehr das, was daraus wird. Nicht dein Charakter entscheidet über Führung, sondern deine Wirkung im Kontext.
Das Spannungsfeld: Zwischen Ich und Funktion
Zu viel Ich wirkt erratisch. Zu viel Rolle wirkt kalt. Wer nur auf sich schaut, verliert die Struktur. Wer nur auf das System schaut, verliert sich selbst.
Führung braucht beides: Strukturbewusstsein und Selbststeuerung.
Selbstführung ist kein Selbstausdruck. Führung ist ein Prozess, der im sozialen Miteinander entsteht. Nicht im Kopf der Führungskraft. Selbstführung heißt deshalb nicht: Ich zeige mich. Sondern: Ich reguliere mich – im Spannungsfeld von Erwartungen, Funktion und Kontext.
Zu wissen, wann man spricht. Und wann nicht. Wann man sichtbar ist. Und wann man Distanz hält. Wann man entscheidet. Und wann man moderiert.
Mein Blick
Als formal mächtige Person gestaltest du das System. Und gleichzeitig: Das System gestaltet dich.
Wer das versteht, führt klarer, souveräner und wirkungsvoller. Nicht trotz Rolle. Sondern durch sie.
Wenn du das für dich erkunden willst: Ich begleite dich gern.
Preview:
Gefällt dir, was ich schreibe, dann blieb dran. In den kommenden Wochen werde ich noch viele Themen rund um Organisation, Führung, Psychologie und Philosophie bewegen.
Unter anderem schreibe ich über
- die freiwillige Gefolgschaft und wie man sie (nicht) erreicht,
- über geteilte Verantwortung für das Gelingen oder auch Misslingen des Führungsgeschehens,
- warum Führung nicht über Titel, sondern über Beziehung wirkt,
- über den Umgang mit Komplexität ... und alles was mir spontan sonst noch alles an spannenden Themen durch den Kopf geht.
Vielen Dank, dass du deine Zeit mit mir verbracht hast. Bis zum nächsten mal, stay tuned!