Viele Führungskräfte meinen es gut – und genau das ist das Problem
Ein starker Einstieg – mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen
Es beginnt oft mit einem guten Gefühl. Da ist jemand, der sich schützend vor sein Team stellt, Konflikte abfängt und sagt: „Lasst das mal meine Sorge sein. Ich regle das für euch.“ Dafür erntet er von allen Seiten Respekt. Konstantin ist erst seit drei Jahren im Unternehmen, doch sein guter Ruf eilt ihm voraus. Man sagt, er habe Haltung, Rückgrat und betreibe echte Fürsorge. Jeden Donnerstag um 08:30 Uhr komme das Team zusammen, um gemeinsam zu frühstücken – dabei entstehe eine Art „Nestwärme“ und Bindung. Sein Team könne sich glücklich schätzen, ihn zu haben – so das Narrativ in der Organisation.
Da wird einem doch warm ums Herz: So sieht echte „gute“ Führung aus, oder? Mehr davon! Mehr Konstantins! So sollten wir angehende Führungskräfte rekrutieren, coachen und entwickeln.
Wenn Fürsorge kippt
Zunächst einmal ein ganz klares Ja: Führung ist zu ganz wesentlichen Teilen wechselseitige Beziehungsarbeit. Es geht darum ein Klima geprägt von Vertrauen, Verbundenheit, und in gewissem Maße auch von Fürsorge miteinander zu schaffen. Doch, wie ihr euch sicher schon denken könnt, gibt es bei meinen nun folgenden Ausführungen zwar ein „Ja" - und dann auch ein sich anschließendes "aber“. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Darüber hinaus folgt ein integrierendes „Ja, und“! Doch der Reihe nach. Fangen wir an mit dem "ja - aber"
Ja, aber: Was als Fürsorge beginnt, kann manchmal in organisationalen Kontexten - nicht beabsichtigt - und häufig als schleichender Prozess - zur Dysfunktionalität umschlagen. In Organisationen geht es in erster Linie um das Zufriedenstellen von Kundenbedürfnissen und Wertschöpfung – durch Produkte oder Dienstleistungen. Die Interaktion findet unter dieser Sinnsetzung statt - und das unter Erwachsenen Menschen. Bei der Betrachtung des Fürsorgeaspektes geht es also nicht um Eltern-Kind-Verhältnisse, sondern um Erwachsenendynamik.
Ja, und: Was Konstantin mit der besten Absicht tut ("Ich regle das für euch"), kann gut und in einer anderen Situation oder im falschen Kontext – ins Gegenteil umschlagen. Während Fürsorge an sich wichtig ist, darf sie nicht zu einer permanenten Verantwortungsübernahme führen, die anderen im Team, wie zum Beispiel Maria, die Möglichkeit nimmt, Verantwortung selbst zu tragen.
Maria ist ein Teammitglied von Konstantin, und wenn Konstantin reflexartig Verantwortung übernimmt, könnte das Marias Entwicklungsmöglichkeiten einschränken. Was als fürsorgliche Geste begann, könnte so unbewusst zu einer Form der Bevormundung führen und Maria in ihrer Eigenverantwortung behindern, anstatt sie zu stärken. Der Standort bestimmt die Perspektive. Konstantin will Fürsorge geben, Maria fühlt sich micro-gemanaged. Wird das im Team und unter den beiden nicht besprechbar (was sehr häufig passiert) entwickelt sich schleichend ein dysfunktionales Muster in der Zusammenarbeit.
Beobachtet man Konstantin und Maria nur oberflächlich, könnte man von außen betrachtet sogar denken, Maria wolle gar keine Verantwortung übernehmen. Schließlich brauche sie Konstantin jedes Mal am Ende des Tages, sonst wäre sie oder das Projekt „verloren“. Doch ist das wirklich so? Oder wurde ihr nie zugetraut, in ihre Rolle zu wachsen? Wer entscheidet das eigentlich? Vielleicht wollte Maria auch selbst das Zepter in die Hand nehmen.
Möglicherweise geht es Konstantin auch gar nicht so sehr nur um die vermeintlich schwache Maria. Vielleicht ist sie sogar nur Mittel zum Zweck. Vielleicht geht es ihm – zumindest unbewusst – um sich selbst. Indem er solche Situationen kreiert verschafft er sich selbst Gelegenheiten sich schützend vor "seine Leute" stellen zu können. Vielleicht beflügelt ihn das. Er erlebt sich selbst als "stark" und moralisch auf der richtigen Seite. Schließlich ist des ja seine Pflicht dem Team den Rücken freizuhalten. Als Held in der Organisation - bekommt er dafür womöglich auch eine öffentliche Bühne und damit einhergehende Beförderungschancen. Er übernimmt die Rolle des Good Guy – mit dem sicheren Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch was am Ende dabei rauskommt: Das System wird nicht gestärkt, sondern gespalten.
Organisationale Realität: Spannung statt Harmonie
Führung ist kein Ideal – auch wenn es viele Idealbilder davon gibt: die Führungskraft als Retter, als Kümmerer, als Servant Leader. Wenn wir jedoch auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, dann ist Führung in der Realität eingebettet in äußerst widersprüchliche organisationale Entscheidungsprozesse. Diese folgen keineswegs einem harmonischen Skript.
Der Alltag ist komplex: begrenzte Ressourcen müssen gemanagt, konkurrierende Interessen verhandelt und ungewisse Zukünfte gestaltet werden – natürlich immer zum Besten des Unternehmens. Der organisationale Standardmodus ist "Spannung" – aber das ist keine Störung, sondern der Normalzustand.
Typische Paradoxien in der Führung
Wer als Führungskraft
- Probleme löst, verletzt zwangsläufig Interessen (Des einen Freud ist immer auch des anderen Leid).
- Interessen wahrt, löst selten das Problem (Der Konsens von heute ist der Konflikt von morgen).
- Entscheidungen trifft, erzeugt Widerstand (Der neue Besen kehrt schwer).
- Unternehmerische Wagnisse eingeht, die die Zukunft sichern sollen, kann enttäuschen, da sich der Erfolg erst in der Zukunft zeigt („Wir verdienen hier das Geld, während die da oben am Wolkenkuckucksheim basteln“).
- Verantwortung übernimmt, schneidet Autonomie an anderer Stelle ab („Da braucht ihr euch nicht drum kümmern – ich gehe da in den Lead“ – Konstantin und Maria).
- Das vertritt, was „ökonomisch richtig“ ist, kommt nicht immer gut an („Unsere Auftragslage ist miserabel. Wir streichen das Alumnitreffen und alle Fortbildungen bis auf weiteres“).
Führung kann also nie einfach nur „gut“ oder "harmonisch" sein. Sie ist zumutend, widersprüchlich, permanent kritisierbar – und genau deshalb wirksam.
Organisationen brauchen weder Helden noch Schuldige
„Solange man noch nach Helden oder Schuldigen sucht, um eine Situation plausibel zu erklären, hat man sie noch nicht verstanden.“ – Gerhard Wohland
Denn beides – der Held wie der Schuldige – sind Vereinfachungen. Sie erzeugen ein trügerisches Gefühl von Klarheit in einem komplexen Geschehen. Wer zum Helden gemacht wird, trägt plötzlich die ganze Last oder den Ruhm der Lösung. Wer zum Schuldigen erklärt wird, wird zur Projektionsfläche kollektiver Enttäuschung. In beiden Fällen wird das eigentliche Problem verdeckt: die strukturelle Dynamik des Systems.
Führung in Organisationen ist nie das Werk Einzelner – sondern ein Zusammenspiel aus Rollen, Erwartungen, Zuschreibungen und Kontexten. Wer das ignoriert, hält an Geschichten fest, wo ein tieferes Verstehen gefragt wäre. Und vergibt damit die Chance auf echte Veränderung.
Was Organisationen wirklich brauchen
Organisationen brauchen daher also keine Idealbilder von Führung. Weder den idealen Retter, noch den Empathen, den Charismatiker oder die reinrassige Ökonomin. Sie brauchen Räume, die zur jeweiligen Problemstellung passen. Mal sind das gut durchorganisierte, orchestrierte Kommunikationsräume, in denen nicht viel geredet, sondern effizient gehandelt wird, basierend auf Best Practices. Ein anderes Mal braucht es, je nach Problemstellung, Räume, in denen Menschen selbst sprechen, entscheiden und Konflikte klären können.
Führung beginnt mit Rollenklarheit und Orientierung
Aus organisatorischer Sicht beginnt Führung mit deinem Wirken im System.
Aus persönlicher Sicht beginnt Selbstführung bei dir – und bei deinem Bewusstsein über deine Rolle und den Kontext.
Aus Teamsicht entsteht Führung im ständigen Abgleich gegenseitiger Erwartungen.
Diese Ebenen bedingen sich gegenseitig.
Meine Empfehlung lautet: Reflektiert regelmäßig über die Frage: „Was stärkt eure Eigenverantwortung – und was untergräbt sie?“
Im Falle von Konstantin und Maria: Was kurzfristig gut gemeint ist, verhindert oft langfristiges Wachstum. Wo Reibung und Diskurs nötig wäre, um Entwicklung zu ermöglichen, wird sie – wenn auch gut gemeint – am Ende doch verhindert und damit weggeputzt. Wo Entwicklung stattfinden könnte, wird statt dessen "betreut".
Du willst deine Führung wirksam gestalten – ohne in die Retterfalle zu tappen?
In meinem Coaching schärfen wir deine Klarheit über Rolle, Kontext und Wirkung. Wir arbeiten daran, wie du Verantwortung abgibst, statt sie reflexartig zu übernehmen, und wie du Raum schaffst, statt ihn zu füllen.
Wenn dich das anspricht, begleite ich dich gern.