Gedanken über Selbstgestaltung, Gelassenheit und die Freiheit, sich nicht festlegen zu müssen
Die Begriffe Abhyāsa und Vairāgya stammen aus der indischen Yogaphilosophie, genauer gesagt aus den Yoga-Sūtras von Patañjali. Sie stehen dort am Anfang, als zentrale Antwort auf die Frage:Wie kommt der Geist zur Ruhe?
Die Antwort lautet:
Durch beständige Übung (Abhyāsa) – und durch Loslösung (Vairāgya).
Diese beiden Kräfte wirken zusammen: Die eine hält uns auf dem Weg. Die andere verhindert, dass wir uns daran verbeißen.
Doch was bedeuten diese Prinzipien für uns, hier im Westen – in einer Gesellschaft der Selbstoptimierung, der ständigen Reize, des ständigen Vergleichs?
Und was bedeutet es überhaupt, „sich selbst zu üben“ – oder „sich selbst loszulassen“?
Abhyāsa und Vairāgya – was ist das?
Abhyāsa bedeutet beharrliche Praxis. Nicht einmalige Erkenntnis, sondern das wiederholte Bemühen, den Geist auszurichten, gegenwärtig zu sein, sich einer inneren Richtung zu verpflichten. Ob im Yoga, in der Meditation oder im Alltag: Es ist die Kunst, immer wieder aufzutauchen – trotz Zweifel, Müdigkeit, Scheitern.
„Langfristig, ohne Unterbrechung und mit Hingabe“, so beschreibt Patanjali diese Übung.
Vairāgya bedeutet Nicht-Anhaften. Es ist die Fähigkeit, Eindrücke, Gedanken, Erfolge oder Misserfolge loszulassen. Vairāgya heißt: Ich bin nicht meine Emotionen. Nicht meine Rollen. Nicht meine Geschichte. Ich bin fähig, mich zu lösen – von dem, was mich bedrängt, und von dem, was mich zu stark bindet.
Patañjali bringt es auf den Punkt:
„Durch Übung und Loslösung kommt der Geist zur Ruhe.“ (Yoga-Sūtra I.12)
Doch bevor wir damit weitergehen, ist mir ein kurzer philosophischer Umweg wichtig – vielleicht sogar notwendig.
Ein kritischer Blick auf das „wahre Selbst“
Oft begegnet uns – auch im Yoga – die Idee, dass wir zu unserem „wahren Selbst“ zurückkehren müssten. Dass tief in uns ein unveränderlicher, reiner Kern wartet, den wir durch Übung und Loslösung freilegen sollen.
Aber: Ist das überhaupt ein sinnvolles Bild?
Diese Vorstellung hat eine lange Tradition, besonders im westlich-christlichen Denken. Dort wurde die Seele als etwas Ewiges gedacht – als etwas, das beim Jüngsten Gericht „gerettet“ oder „verloren“ werden kann. Diese Idee hat sich eingeschlichen in unsere Sprache vom Selbst: als etwas, das fest, stabil, im Inneren verborgen ist – ein Ideal, dem man entsprechen muss.
Doch was, wenn es dieses „wahre Selbst“ so gar nicht gibt?
Was, wenn das Selbst kein Ding ist – sondern ein Prozess?
Was, wenn es nicht heißt: „Ich bin jemand“ – sondern: „Ich werde jemand“?
Viele Philosophen sprechen genau davon, wenn sie sagen: Das Selbst ist kein Besitz, sondern eine Bewegung.
Es entsteht in unseren Entscheidungen, in unseren Fragen, in unserer Fähigkeit, uns zu verändern.
Dann heißt Yoga vielleicht nicht: „Komm zurück zu deinem wahren Wesen“, sondern: „
Werde wach für den Raum, in dem du dich gestalten kannst.“
In dieser Sichtweise werden Abhyāsa und Vairāgya nicht zu Werkzeugen, um zu einem inneren Ideal zu gelangen – sondern zu zwei Haltungen, die uns erlauben, im Prozess des Werdens menschlich zu bleiben.
Was bedeuten Abhyāsa und Vairāgya dann philosophisch?
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Abhyāsa ist die bewusste Entscheidung, nicht aufzuhören. Es ist das „Ich trete täglich neu in mein Leben ein.“ Nicht weil ich jemand Bestimmtes sein muss – sondern weil ich jemand werden darf.
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Vairāgya ist die Kunst, sich nicht zu fixieren: nicht auf Meinungen, nicht auf Stimmungen, nicht einmal auf die Idee, man müsse „ganz bei sich“ sein. Es ist die Freiheit, nicht alles ausräumen zu müssen, sondern Widersprüchlichkeit zuzulassen.
So entsteht eine paradoxe Freiheit: Ich darf mich üben – und ich darf mich lassen.
Der Soziologe Niklas Luhmann definiert Autonomie nicht als totale Unabhängigkeit, sondern als die Fähigkeit, die eigenen Abhängigkeiten bewusst zu wählen.
- Wer etwas unbedingt will – oder etwas unbedingt verhindern muss – verliert diese Freiheit.
- Abhyāsa und Vairāgya helfen genau hier: Ich wähle, worauf ich Einfluss nehme (Übung) – und ich lasse los, wo mein Festhalten mich unfrei macht (Loslösung) Zwischen diesen Polen entsteht echte Autonomie.
Abhyāsa und Vairāgya sind also Mittel, um bewusste Autonomie zu gestalten – aber sobald sie zwanghaft werden, verlieren wir genau diese Autonomie.
Oder anders formuliert: Frei ist, wer weiß, wo Übung sinnvoll ist – und wo Anhaften unfrei macht.
Praktische Beispiele – Wo Übung und Loslassen im Alltag wirken
In der Arbeit:
Ich etabliere eine klare Routine, bleibe an Projekten und Lernprozessen dran – das ist Abhyāsa.
Doch ich klammere mich nicht an Perfektion oder die Anerkennung anderer – Vairāgya heißt: Ich gebe mein Bestes, ohne alles kontrollieren zu wollen.
In Organisationen:
Komplexe Systeme folgen keiner linearen Logik. Vieles ist nicht planbar.
Vairāgya bedeutet hier: Prozesse nicht übersteuern, Dynamiken nicht im Keim ersticken – sondern Raum lassen für Emergenz.
Abhyāsa hingegen ist: Strukturen pflegen, in Bewegung bleiben, Haltung zeigen – auch wenn der Ausgang offen ist.
In der Selbstführung:
Selbstführung heißt: bewusst üben, sich selbst zu beobachten, Muster zu hinterfragen – das ist Abhyāsa.
Und gleichzeitig: sich nicht mit jedem Gedanken, jeder Emotion zu identifizieren. Vairāgya schafft Abstand – und damit Wahlfreiheit.
In Beziehungen:
Ich bleibe verbindlich, zugewandt, präsent – Abhyāsa zeigt sich in Geduld und aktiver Kommunikation.
Aber ich lerne auch, loszulassen: von Erwartungen, vom Wunsch, alles richtig zu machen. Vairāgya heißt hier: Nähe ohne Klammern.
In der Achtsamkeitspraxis:
Ich kehre immer wieder zum Atem zurück, zur Gegenwärtigkeit – Abhyāsa ist die bewusste Rückkehr.
Vairāgya ist das stille Anerkennen dessen, was auftaucht – und das Loslassen, ohne zu kämpfen. Gedanken dürfen kommen und gehen.
Im Umgang mit Konsum und Leistung:
Ich übe Verzicht, trainiere gute Gewohnheiten – das ist Abhyāsa im Alltag.
Aber ich definiere mich nicht über Disziplin oder Verzicht. Vairāgya ist die Einsicht: Ich bin mehr als meine To-do-Liste. Mehr als das, was ich „leiste“.
Gesellschaftlicher Kontext – warum wir beides brauchen
Unsere Gesellschaft ist durchdrungen von Selbstoptimierung: Apps, Tracker, Routinen – wir wollen effizient, gesund, wach und wirksam sein.
- Das ist Abhyāsa – aber oft ohne Seele.
- Was fehlt, ist Vairāgya: die Fähigkeit zu sagen „Es ist genug.“
Nicht jeder Tag muss perfekt sein. Nicht jede Schwäche muss optimiert werden.
Gleichzeitig entdecken viele den Reiz des Minimalismus, des Digital Detox, der Achtsamkeit. All das sind Vairāgya-Bewegungen – aber ohne Übung, ohne Rhythmus, ohne Rückhalt im Alltag, verpuffen sie.
Wir brauchen also beides: den langen Atem und die lockere Hand.
Schlussgedanken – zwischen Tun und Lassen
Abhyāsa und Vairāgya laden uns ein, menschlich zu bleiben in einer Welt, die entweder rastlos oder resigniert ist.
- Sie fordern uns auf, dran zu bleiben, wo es Sinn macht.
- Und loszulassen, wo wir uns selbst im Weg stehen.
Sie sagen: Du musst nicht perfekt sein. Aber du darfst dich üben.
Und du darfst dich ändern – ohne dich selbst je vollständig zu kennen.
Vielleicht ist das die eigentliche Freiheit:
Nicht zu wissen, wer man „wirklich“ ist – und sich trotzdem treu zu bleiben.
In einer Welt, die oft schnelle Antworten verlangt, lade ich ein zu etwas anderem:
- Zu einem Denken, das Tiefe zulässt.
- Zu einer Praxis, die nicht nur Leistung optimiert, sondern Menschlichkeit fördert.
- Zu einer Führung, die den Mut hat, zu üben – und loszulassen.
Coaching ist für mich kein Rezeptbuch. Sondern ein Raum, in dem sich etwas entfalten darf.
Zwischen Philosophie, Wirtschaft, Organisationssoziologie und Psychologie entsteht dieser Raum – interdisziplinär, praxisnah, manchmal unbequem, aber immer entwicklungsorientiert.
Lust auf mehr Brückenschläge zwischen scheinbar entfernten Welten? Mehr Tiefe im Business? Mehr Freiheit im Denken?
Ich begleite gern – mit Klarheit, Resonanz und einer Haltung, die Raum lässt.
- Was wäre, wenn Führung mehr mit Gelassenheit zu tun hätte als mit Kontrolle?
- Was wäre, wenn persönliche Entwicklung nicht in Zielplänen beginnt – sondern im Raum zwischen Anstrengung und Akzeptanz?
Preview:
Gefällt dir, was ich schreibe, dann Bleib dran. In den kommenden Wochen werde ich noch viele Themen rund um Organisation, Führung, Psychologie und Philosophie bewegen.
Unter anderem schreibe ich darüber
- Warum gute Ideen in Organisationen oft scheitern
- Wie Organisationsschmerzen vermeidbar sind
- Wie Macht in Beziehungen entsteht und darüber was das
- griechische Sprichwort „Άμα μπεις στον χορό θα χορέψεις" (Wenn du in den Tanz einsteigst, wirst Du tanzen) mit Organisation und Führung zu tun hat
und alles was mir spontan sonst noch an spannenden Themen durch den Kopf geht.
Vielen Dank, dass du deine Zeit mit mir verbracht hast. Bis zum nächsten mal, stay tuned!