Von der Kunst, Komplexität nicht zu unterschätzen
Wenn Klarheit zur Falle wird
Es war gut gemeint - ja wirklich - und es sollte ein ehrlicher Austausch werden. „Wir wollen eine offene Feedbackkultur, in der alles gesagt werden darf.“ So lautete das verlockend klingende Versprechen - und damit implizit die subtile Verhaltensansage. Die Einladung ans Team war perfekt - vielleicht ein bißchen zu glatt. Es steckte viel Gedankengut und Arbeit in ihr - sie war wohlformuliert, rund geschliffen, rhetorisch glatt poliert, empathisch und mehrfach durch die KI gejagt.
Das Setting: Wirklich professionell. Der Raum: neutral gestaltet, flexible Bestuhlung - richtig guter hochpreisiger Cafe - mit und ohne Kuhmilch - mit und ohne Koffein... Ansonsten alles da, was das Workshopherz begehrt, viele bunte Klebezettel, die gut kleben - in verschiedenen Größen, gut bewegbares ergonomisches Flipchart aus Holz und natürlich ein Time-Timer. Richtig chic und modern - New Work Style. Alle fünf Teilnehmenden waren erschienen - zumindestens waren sie anwesend und eingeschwört: Jede:r darf sagen, was sie oder ihn stört. Die einzige Bedingung: wertschätzend, konstruktiv, direkt - so sollte miteinander kommuniziert werden.** ... also vollkommen authentisch ... so die Anforderung.
Doch kaum hatte die Runde begonnen, entstand etwas was so gar nicht zur offenenn Kommunikation passte - Stille.
Ich meine nicht diese angenehme Art von Stille - die produktive, klärende – sondern jene echt beklemmende flache, dichte Stille, in der jeder zweite Satz vorsichtig eingefasst und in Tonnen von Watte gepackt wird:
„Ich sehe das nicht als Kritik, aber…“, „Ich weiß, du meinst es gut, aber…“ Ein Mienenfeld in dem versucht wurde kommunikativ durchzunavigieren.
Was als ehrlicher Dialog gedacht war, geriet zum emotionalen Eiertanz. Ein Kollege versuchte, freundlich auf ein Verhalten einer Kollegin hinzuweisen – sie schluckte, einmal, zweimal - sie nickte, und sagte „Danke für die Offenheit“ und zog sich danach spürbar zurück.
Später, im Flur, hörte man: „Ich hab jetzt nach diesem Workshop am Ende deutlich weniger Lust, mit der Person noch mal ehrlich zu sprechen.“
Das ehrliche Feedback war zwar ausdrücklich auf der Agenda – aber in der Realität es war vor allem eines: nicht erwünscht.
Dieses Setting hab ich mehrfach zum einen selbst erlebt und mehrfach von meinen Coachees geschildert bekommen. Was ist da passiert?
Warum wir Klarheit wollen – und warum sie uns oft täuscht
Der Ruf nach Klarheit und Offenheit ist allgegenwärtig:
- „Wir brauchen klare Rollen, klare (am besten isokonforme, wasserdichte) Regeln.“
- „Sag’s doch einfach direkt.“
- „Das müssen wir mal sauber aufsetzen.“
... die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Klarheit gilt als Zeichen von Stärke, Vernunft, Führungsfähigkeit. Sie schafft Struktur – und vermittelt das Gefühl, Kontrolle über das Unklare zu gewinnen. Doch genau da liegt das Problem: Wir setzen Klarheit oft dort ein, wo sie nicht hingehört. Nämlich in menschliche Beziehungen. In Zwischenräume. In Zonen der Unsicherheit.
Wir denken: Wenn wir es nur richtig benennen, wenn wir es ordentlich moderieren, dann lösen wir es schon. Aber echte Konflikte lassen sich nicht „lösen“. Sie lassen sich nur regulieren, verstehen, aushalten, gestalten. (Über Konflikte und ihre Dynamiken, werde ich in anderen Artikeln noch näher eingehen)
Diese Überbetonung von Eindeutigkeit – dieses „Sag’s einfach“ – folgt einer Denklogik, die suggeriert: Alles ist erklärbar. Alles ist machbar. Alles ist reparierbar. Doch das Leben, vor allem das menschliche Miteinander, widerspricht dem. Es ist voller Spannungen, Widersprüche, Ambivalenzen. Wer sie ausblendet, produziert Scheinlösungen – keine echten und produziert Erwartungen, die am Ende enttäuscht werden müssen.
Wenn Klarheit zur Kontrolle wird
Klarheit ist nicht neutral. Sie wirkt wie ein Filter, eine Retusche – und oft auch wie ein Machtinstrument. Wer „klare Worte“ fordert, beansprucht vor allem eines Definitions- und Deutungshoheit: über das, was gesagt werden darf, und wie es gesagt werden muss.
In vielen Organisationen erlebe ich eine Kultur, in der Widersprüche als Störungen gelesen werden. Kritik muss „lösungsorientiert“ sein. Feedback soll „wertschätzend“ klingen. Reibung wird nur dann toleriert, wenn sie sich möglichst schnell in Maßnahmen überführen lässt. Aber Konflikte lassen sich nicht standardisieren und zielgerichtet prozessieren. Und Verletzbarkeit nicht moderieren.
Das Fatale: Je mehr wir versuchen, Komplexität zu vereinfachen, desto mehr verhärten sich die Dynamiken darunter.
Was nicht gesagt werden darf, wird hinter den Kulissen gelebt. Was nicht ins Format passt, taucht in keiner Retrospektive auf – aber in Flurfunk, Rückzug oder passiver Resignation.
Die Illusion der Steuerbarkeit
Organisationen neigen dazu, soziale Wirklichkeit zu „prozessieren“:
- Feedback wird zur Methode.
- Konfliktmediation wird zur Maßnahme.
- Ambivalenz wird zur Anomalie.
Dabei geht oft das verloren, was wirklich trägt: Präsenz.
Das, was nicht in Worte passt. Was wir nicht messen, zählen und wiegen, aber sehr wohl spüren können - insbesondere wenn wir Scheitern, Projekte ins Stocken geraten, die vielerorts geforderte Agilität an sich verändernde Umstände beharrlich ausbleibt. Wir spüren woran es fehlt: Wir spüren "unzureichendes Vertrauen", wir beschweren uns über das "Zögern des Managements", meiden "Entscheidungen und Zonen der Unsicherheit" - ... ich halte mich dann mal lieber an das, was mir das Prozesshandbuch sagt ..., und scheuen uns nach Zuwendung im sozialem Teamgeschehen zu fragen, um uns nicht angreifbar zu machen. Bleiben in der Defensive und damit isoliert und damit unglücklich.
Wer diese wichtigen so schwer greifbaren Qualitäten oder Capabilities in Organisationen ausblendet – bewusst oder unbewusst –, bezahlt einen Preis: Kommunikation wird zwar glatt, aber nicht echt. Prozesse laufen, aber berühren nicht, Mitarbeiter riskieren und bewirken nichts. Teams funktionieren zwar - keine Konflikte - , aber sie entwickeln sich nicht.
Wenn Wissen zur Bremse wird – und warum Organisationen oft nicht lernen
Hier nochmal ein weiteres Beispiel aus der Praxis: Martin wusste, wie’s geht. Er war schon in drei Unternehmen als Projektverantwortlicher tätig gewesen, hatte Prozesse verschlankt, Standards etabliert, Skalierbarkeit gesichert. Wenn es irgendwo knirschte, hieß es: „Frag Martin.“ Und Martin lieferte. Martin war stolz darauf und fühlte ich auch selbst als "Macher" und Mann fürs Aufräumen.
Jetzt stand er wieder vor einer komplexen Situation: mehrere Teams, unklare Verantwortlichkeiten, verschiedene Auffassungen davon, was „gute Projektarbeit“ bedeutet.
Martin analysierte, strukturierte, erklärte – und präsentierte schließlich die Lösung: ein Best-Practice-Modell, sauber durchdekliniert, auf einem großen Miro-Board.
Die Reaktion? Zögerlich.
Ein Team nickte höflich. Ein anderes äußerte Bedenken. Ein drittes fragte, ob man nicht erstmal abwarten könne, wie sich das Projekt weiterentwickelt. Martin war frustriert. „Ich verstehe das nicht – es ist doch logisch. Das hat sich in der Praxis zigfach bewährt.“ Doch genau das war der Punkt: Martins Lösung funktionierte – nur nicht !!!hier!!!.
Die Falle des zu schnellen Wissens
Wer viel gesehen hat, sieht oft zu schnell. Und wer weiß, wie’s läuft, verpasst manchmal, was sich gerade ändert.
In vielen Organisationen wird der Erfolg der Vergangenheit zum Verhängnis und die Erfahrung zur Norm. Best Practice wird zur Blaupause.
Doch Lernen braucht etwas anderes: Irritation. Neugier. Kontext. Beziehung. - kein Ausruhen oder gemütliches Einrichten in der Komfortzone.
Wirkliches Lernen beginnt dort, wo man gerade nicht mehr sicher ist.
- Wo man nicht reflexhaft weiß, was zu tun ist.
- Wo man innehält – und wahrnimmt.
- Wo eine gewisse "Not entsteht", die dann hoffentlich erfinderisch, neugierig und kreativ macht
Konstruktiv und aufgeweckt denken heißt nicht: mehr wissen – sondern anders wahrnehmen
- Was, wenn Klarheit gar nicht das Ziel sein muss?
- Was, wenn nicht jede Spannung ein Problem ist, sondern ein Hinweis?
- Was, wenn wir aufhören, Organisationen wie Maschinen zu denken – und anfangen, sie als lebendige Systeme zu verstehen?
Konstruktiv und aufgeweckt denken heißt nicht, die perfekte Lösung zu finden. Es heißt auch nicht, alles zu hinterfragen.
- Es heißt: den Moment ernst nehmen, in dem etwas nicht rundläuft – und nicht sofort reparieren wollen.
- Es heißt, Fragen zuzulassen, auch wenn sie nicht in die Agenda passen.
- Es heißt, Ambivalenzen zu würdigen, statt sie wegzumoderieren.
Und manchmal heißt es auch: einfach nur dabei bleiben. Aushalten. Zuhören. Ohne zu wissen, wie es weitergeht.
In einer Welt, die auf Eindeutigkeit setzt, wird Differenzierung zum Akt der Selbstermächtigung. Nicht das laute Statement verändert etwas – sondern die stille Entscheidung, die Komplexität nicht zu unterschätzen.
In meinem Coaching arbeite ich mit Menschen, die spüren: Da geht noch mehr.
Nicht im Sinne von „höher, schneller, klarer“, sondern im Sinne von Tiefe, Wirkung und Resonanz.
Wir denken gemeinsam konstruktiv, aufgeweckt und im besten Sinne kritisch – systemisch, ehrlich, jenseits von hohlen Phrasen.
Für Führung, die Beziehung ernst nimmt. Für Teams, die Differenzierung aushalten. Für Organisationen, die mehr wollen als Ordnung.
Preview: Gefällt dir, was ich schreibe, dann bleib dran. In den kommenden Wochen werde ich noch viele Themen rund um Organisation, Resonanz, Psychologie, Philosophie, Komplexität und Führung bewegen.
🙏 Vielen Dank, dass du wieder deine Zeit mit mir verbracht hast. 🙏 Bis zum nächsten mal, stay tuned!